Fressen, Kunst und Puderquaste

Erinnerungen an die J.

©Pixabay

 

Während der Fahrt nach Grosbous wo ich das Freilichtspektakel betreue, muss ich durch ein Dorf fahren, das mir durch seinen etwas ungewöhnlichen Namen, seit meiner Kindheit ein Begriff ist. Der Ort ist nichts besonderes, er hat meiner Kenntnis nach weder Sehenswürdigkeiten, noch ist er für irgendetwas anderes bekannt. Ich habe ihn mir als Kind immer irgendwie mitten im Wald vorgestellt (was teilweise auch der Fall ist) Und ich verbinde mit einer Klassenkameradin, der J.

Ich habe, glaube ich, kein Foto von ihr. (Oder doch?)*

Ihr Gesicht habe ich nur von ihren letzten Jahren in Erinnerung, das immer sehr blass war, zeitenweise sogar bläulich. Die J. hatte einen angeborenen Herzfehler der nie richtig behandelt wurde oder werden konnte.

Zusammen mit ihrem jüngeren Bruder war sie im Kinderheim meiner alten Heimat. Sie waren Halbwaisen. Ihre Mutter lebte nicht mehr. Warum ihr Vater die beiden ins Heim gab weiß ich nicht.  Die J. saß ein Jahr lang hinter mir in der Bank, und war eine der seltenen Kameradinnen die mich nicht hänselte. (Aber das ist eine andere Geschichte)

Sie hatte ein Foto von ihrem Vater in ihrer kleinen Geldbörse. Sie zeigte ihn mir einmal. Es war ein seltenes Privileg, weil sie noch nie jemandem das Foto gezeigt hatte. Es war ein alter Mann mit strengen Gesichtszügen und, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, war er  Förster von Beruf.

Was mir seltsamerweise an dieser kleinen Begebenheit mit dem Foto in Erinnerung geblieben ist, war der Umstand, dass ich ihr das mit dem Foto nicht abnahm. Er sah so “anders” aus. Nicht wie mein Vater oder die andern Väter. Er schien wie aus einer vergangenen Epoche.  Auf mich hatte er dir gleiche Wirkung wie das riesengroße Porträt vom Urgroßvater, das die Großmutter Thérèse im Salon hängen hatte. J’s Vater hatte genau den gleichen riesigen Schnauzer, der das halbe Gesicht verdeckte.  Die J. musste das irgendwie gespürt haben dass ich ihr nicht glaubte und sagte mir sehr fester Stimme: Das…ist…mein…Vater!” Sie steckte das Foto wieder ein und niemand bekam es je wieder gezeigt.

Erst Jahre später zur Firmung, sollte ich den Vater einmal kurz zu Gesicht bekommen. Er stand nach der Messe ein wenig verstohlen abseits der Kirche und schien sehr verlegen, als die J. auf ihn zurannte und ihn ganz fest drückte. Er war groß und hager und hatte tatsächlich den gewaltigen Schnauzer.  Ich weiß noch dass sich ein paar der anderen Kinder fragten wer das denn sei. Ich wusste die Antwort.

Er kam selten zu Besuch. Die J. blieb auch an den meisten Wochenenden im Heim.

Ansonsten war die J. war sehr still und sprach kaum. Eine besonders gute Schülerin war sie nicht. Nach den Grundschuljahren verlor ich sie aus den Augen, weil ich anschließend ins Internat kam.

Es war seltsam, die J. Jahre später im Supermarkt zu sehen. Sie war nach der Schule nicht zurück in ihr Dorf gezogen sondern in meiner ‘alten Heimat’ geblieben, arbeitete in dem kleinen Supermarkt und füllte die Regale auf.

Wir waren nicht wirklich gute Freunde. Wir kannten uns halt von der Grundschule her und grüßten uns wann immer wir uns trafen.

Doch dann plötzlich war sie nicht mehr da. Man sagte sie läge wieder im Krankenhaus. Kurze Zeit später fing sie in der Großküche vom  Altenheim an zu arbeiten, in dem meine Mutter Oberkrankenschwester war. Doch lange blieb sie nicht. Sie ging mit Mitte 30 in Rente, da sie nicht mehr arbeiten konnte.

Irgendwann erzählte meine Mutter dass sie in bei den Zeugen Jehovas eingetreten sei. Niemand schien das für eine gute Idee zu halten, wegen der ganzen Indoktrinierung und so. Doch ich fand letztendlich war es gar nicht so verkehrt. Die J. war immer ein Einzelgänger gewesen und hatte nie richtig irgendwo Anschluss gefunden, wahrscheinlich weil sie auch keinen wollte. Hier hatte sie zumindest ein paar Bekannte von den Jehovas die sich um sie kümmerten, besonders dann, wenn es ihr gesundheitlic nicht gut ging. Jeder wusste, einschließlich sie selbst, dass ihre Zeit kurz bemessen war.  Doch immer wenn ich sie sah, war sie guter Dinge und irgendwie schien sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Es sah zumindest nie so aus, als ob sie damit hadere.

Irgendwann Anfang der 2000er starb die J.

Immer wenn ich den Namen des Dorfes höre, muss ich an die J. denken, weil es die einzige Person war, die ich von dort kannte.

***

*Als ich den Beitrag zu Ende geschrieben hatte, kramte ich in alten Fotos rum. Nein, ich habe kein Foto von ihr.

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1 Kommentar

  1. Thierry

    🙁

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