Fressen, Kunst und Puderquaste

Moment mal…

Heute:
Großmutter Marie

Wenn ich heute an eine Person aus meiner Familie denke, die mir immer noch enigmatisch erscheint, dann ist es meine Großmutter väterlicherseits. (Die Großväter habe ich nie kennengelernt, da beide sehr früh verstarben, der eine als mein Vater 17 Jahre alt war, der andere als meine Mutter 10 Jahre war)
Großmutter Marie starb 1994 nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt.

Geboren wurde sie in Straßburg. Ich weiß eigentlich gar nichts von ihrer Kindheit, da sie wissentlich nichts darüber erzählt hat. Mit Sicherheit weiß ich aber dass sie als junges Mädchen mehrfach in der Schweiz bei Angehörigen in Ferien war, was auf den Familienstamm ihrer Mutter bzw. meiner Urgroßmutter zurückzuführen ist. In ihrem Nachlass fand ich später nämlich zwei Tagebücher eines Onkels, der im französischen Teil der Schweiz wohnte.
Nachdem sie die Haushaltsschule abgeschlossen hatte und eine Ausbildung als Sekretärin hinter sich gebracht hatte, ging sie in die Lehre bei einem Kunstmaler in Straßburg um Ölmalerei zu erlernen. Jedoch war damals wie heute, die Kunstmalerei als brotlose Kunst verschrien und sie nahm eine Stelle als Schreibkraft bei der französischen Bahn an. Doch das Malen blieb ihr Hobby bis ins hohe Alter. Wir haben heute noch zahlreiche Bilder von ihr. Bei der Bahn lernte sie meinen Großvater kennen und sie heirateten. Ob es ein gute oder schlechte Ehe war kann ich nicht sagen da sie nie darüber sprach. Ich nehme an dass die Ehe mehr Tiefen als Höhen hatte. Sie sprach zumindest immer davon dass sie nach ihrem Ableben in Straßburg im Grab ihrere Mutter beigesetzt werden wolle und nicht nach Mulhouse von der Großvater begraben ist. In ihrem Nachlass fand ich später eine Reihe von Briefen mit einem Schleifchen zusammengebunden, von einem Mann der NICHT mein Großvater war. Von der Datierung her muss es vor meinem Großvater gewesen sein. Was aus dem Mann wurde, ob es je zu einer amoureusen Verbindung kam weiß ich nicht. Ich weiß nur dass die Urgroßmutter sehr die Hand darüber hielt und ihre Töchter mit einem Mann verheiratet sehen wollte, der sich finanziell gut stand. Als der Großvater an einer Jodvergiftung in Krankenhaus während einer Untersuchung starb, verkaufte sie das Haus in Straßburg und zog aufs Land.

Großmutter Marie hatte eine jüngere Schwester namens Alice. Alice hatte unter mir unbekannten Umständen einen luxemburger Stahlarbeiter kennengelernt. Er hieß Jules. Jules und Alice heirateten und Alice zog nach Luxemburg. Als die Urgroßmutter nicht mehr allein sein konnte, beschloss Alice sie mit nach Luxemburg zu nehmen und sie kam in die Altenstation der Klinik in Hamm. Mein Vater verbrachte viele Ferien in Luxemburg bei seiner Tante Alice und Onkel Jules, der später mein Taufpate werden sollte. So lernte mein Vater meine Mutter kennen die dort als Krankenschwester arbeitete.

Jetzt war Großmutter Marie die Einzige die noch in Frankreich lebte. Sie beschloss ebenfalls nach Luxemburg zu ziehen um näher bei ihrem Sohn und der Schwester zu sein.
Im Nachhinein betrachtet war es ein Fehler, denn sie gewöhnte sich bis an ihr Ende nie richtig in Luxemburg ein. Im Gegensatz zu Tante Alice die später fließend Luxemburgisch redete, sprach Großmutter Marie mit uns nur Elsässisch oder Französisch. Sie bemühte sich sehr eine gute Großmutter zu sein und versuchte zu helfen wo es ging. Jedoch merkte man dass sie es mehr aus einem anerzogenen Pflichtbewusstsein tat. Sie interessierte sich für die schönen Dinge des Lebens, für Kunst und Kultur, für Malerei und Esoterik. In Ihrem Nachlass fand ich später eine unglaubliche Auswahl an esoterischer Literatur und Berichte von übernatürlichen Phänomenen. Sie versuchte sich so gut es ging in Echternach einzuleben in dem sie dem Verein der Frauen und Mütter beitrat. Da sie in ihrer Jugend Klavierunterricht genommen hatte und eine recht gute Singstimme besaß, war sie ebenfalls Mitglied des Kirchchors. Sie verstand nämlich später gut luxemburgisch und sang auch all die luxemburgischen Lieder mit, doch luxemburgisch sprechen habe ich sie nie gehört. Sie bemühte sich redlich, doch brachte sie es nie fertig ein paar richtig gute Freunde in Echternach zu finden. Sie hielt alles und jeden immer auf Distanz und wurde immer wie ein Sonderling betrachtet. Mehr als Bekanntschaften konnte sie nicht herstellen.
Als ich so um die sechs oder sieben Jahre alt war, fingen die Neurosen an und sie stellte damit meine Eltern auf eine schwere Probe. Vor allem mein Vater hatte sehr darunter zu leiden. Großmutter Marie behauptete fest und steif dass man sie beklauen würde. Es verschwanden immer wieder Dinge aus der Wohnung und sie beschuldigte die Nachbarn und Vermieter. Doch stellte sich immer wieder heraus, dass sie die Dinge entweder verlegt oder versteckt hatte und die Beschuldigten waren zur Tatzeit gar nicht da. Sie verscherzte es sich so mehrfach mit den Vermietern und musste immer wieder umziehen. Irgendwann brachte meine Mutter sie zu einem Psychiater der sie eingehend untersuchte und zum Schluss kam, dass sie unter Wahnvorstellungen litt. Doch meine Mutter brachte es nicht übers Herz, allein schon meinem Vater zuliebe, sie in eine Anstalt einweisen zu lassen. Die letzte Wohnung in die sie zog, hatten meine Eltern die Vermieter vorgewarnt und sie zeigten Verständnis dafür. In dieser Wohnung lebte sie bis an ihr Ende und schien dort recht glücklich zu sein, denn niemand beachtete mehr ihre Wahnvorstellungen und irgendwann sprach sie auch nicht mehr davon. Der Zwang jeden Schrank und jede Tür abzuschließen, selbst dann wenn sie in der Wohnung war, blieb bis zum Schluss.
Dass sie für dieses Leben, das sie geführt hatte nicht gemacht gewesen war, merkte ich am besten, am Tag als mein Vater beerdigt wurde. Es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit der Natur wenn die Kinder vor den Eltern gehen müssen, und als mein Bruder starb, war meine Mutter kurz davor wahnsinnig vor Trauer und Schmerz zu werden. Großmutter Marie jedoch stand am Sarg ihres Sohnes, seltsam distanziert, war ein wenig betroffen und zugleich beeindruckt über die Riesenmenge an Freunden und Bekannten die sich eingefunden hatten. Sie führte mit mir und auch mit anderen die sie kannte gepflegte Konversation, wie sie es immer tat. Sie hielt ein Taschentuch in der Hand, drückte es hin und wieder auf die Augen, aber wirklich geweint hat sie nicht.

Ich glaube sie hat meinen Vater nie richtig gemocht…

2 Kommentare

  1. Helmut

    Bravo für diesen Text:
    sehr lebendig erzählt und ans Herz gehend. Halt eine Geschichte, wie sie das Leben schrieb.

    Übrigens: wer sagt denn, daß das Leben einfach sei…

    Wer weiß, was unsere Enkel einst über uns denken und schreiben werden…

    Weiter so!!!

    Helmut

  2. Regina

    wann geht´s weiter?????????????

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