Ich musste 50 Jahre alt werden um an einem Samstagmorgen aufzustehen und um endlich zu verstehen, warum ich nicht der Lieblingssohn war. Wahrscheinlich ist die Erklärung hanebüchen und jeder gelernte Psychologe könnte sie mir anhand von Statistiken in der Luft zerreißen, doch ich bin mir sicher, dass ich richtig liege. Ich glaube dass gewisse Muster sich in einer Familie über Generationen hinweg wiederholen, zum Beispiel in der Erziehung.
Wie in allen Familien die in den 60ern und 70ern gegründet wurden, oblag die Erziehung der Kinder ganz klar der Mutter. Das war bei uns nicht anders. Und meine Mutter erzog mich und meinen Bruder so, wie sie es von ihrer Mutter, also meiner Großmutter gelernt hatte.
Hier kommt der Knack- und Wendepunkt. Meine Großmutter war die Jüngste von fünf Geschwistern. Sie hatte eine ältere Schwester und drei Brüder. Ihre Schwester war die Erstgeborene und ihr standen alle Privilegien der Erstgeborenen zu. So gab es zum Beispiel den Umstand dass die große Schwester über die kleine bestimmen konnte und das wurde auch von den Urgroßeltern gebilligt. Ich kann die Sätze heute noch hören, wenn meine Großmutter davon erzählte: “Du bist die Jüngste und du musst machen was ich dir sage!” Natürlich kam es ihr so vor, als ob ihr Schwester die Lieblingstochter sei, und sie die weniger Geliebte.
Als Großmutter ihre eigene Familie gründete, drehte die ganz bewusst den Spieß um. Sie hatte zwei Töchter. Gritty, die Erste, meine Tante, (von der ich ja schon oft erzählt habe) und meine Mutter. Hier war es ganz klar, wer der Liebling war. Es war meine Mutter. Das war bis zum Ende offensichtlich, dass die Verbindung zwischen den beiden immer stärker und inniger war, als zwischen Großmutter und Gritty.
Also erzog Mutter mich und meinen Bruder genau nach dem gleichen Schema. Mein Bruder war der Lieblingssohn. Sie bestritt es immer vehement mir gegenüber, doch weiß ich dass es so war. Als mein Bruder dann in jungen Jahren verstarb, merkte sie dass sie etwas falsch gemacht hatte. Sie gab es mir gegenüber nie offen zu, doch ich merkte wie sie mich ab dem Moment in Fußstapfen bugsierte, die nicht meine waren…
Hm – und wenn es viel einfacher ist? Wenn einem auch als Mutter manche Menschen mehr liegen als andere, auch wenn man sie selbst gemacht hat? Das würde genauso erklären, warum Deine Mutter versuchte, Dich nach dem Tod des Bruders ihm ähnlicher zu machen.
Ich merke gerade durch Deine Antwort, dass dem Beitrag erklärender ein Schluss fehlt.
Es war vor allem zu Anfang, dass sie plötzlich eine Nähe und eine Art Freundschaft mir gegenüber zeigte, die mir völlig neu und fremd war. Ich musste plötzlich ein Lücke ausfüllen, die mein Bruder hinterlassen hatte. Das ist auch verständlich und absolut nachvollziehbar. Aber ich konnte das nicht. Denn zwischen uns beiden hatte sich ja nichts geändert. Ich empfand ihr gegenüber nicht anders als zuvor. Das mag herzlos klingen, aber ich empfand es nicht so. Ich weiß nicht ob das jemand versteht….
Ah, ich verstehe, das geht natürlich nicht. Und muss sich höchst eigenartig angefühlt haben.