Fressen, Kunst und Puderquaste

Die Geschichte des J.

Ich lernte den J. Mitte der Achtziger kennen, als ich meine Lehre als Friseur begann. Der Laden war recht groß mit neun Friseuren und  vier Auszubildenden. Solche großen Läden gibt es heute kaum noch. Es war einer renommiertesten Salons in Luxemburg, der fast nur die sogenannten oberen 10.000 bediente. Ich habe späterhin nie wieder in einem Laden gearbeitet, bei dem es eine Kundschaft gab, die jeden Tag kam nur um sich auffrisieren zu lassen. Es waren 4-5 Frauen die jeden Morgen im gleichen Stuhl saßen, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

J. war einer der Gesellen, der am längsten dort arbeitete. Besonders beliebt war er nicht weil er nebst der Chefin der einzige war der die Kasse machen durfte und bildete sich schwer etwas darauf ein.  Dabei war der schlechteste aller Friseure im Laden und bediente zum größten Teil nur alte Damen, denn auf den neuesten Trend verstand er sich nicht. Gehasst war vor allem von den Azubis da er uns herumkommandierte als seien wir Putzmägde. Doch Lehrjahre sind bekanntlich keine Jubeljahre und unter ihm waren sie noch ein bisschen schlimmer.
Dar J. hatte keine Freundin, lebte bei seiner verwitweten Mutter und hatte damals (er war Anfang 30) keinen Führerschein. Er trat immer auf wie ein Gutsherr, doch war er alles andere als das. Er trank damals schon nicht wenig, kam aber nie besoffen zur Arbeit, kaute aber regelmäßig viel Kaugummi.

Als ich nach drei Jahren meine Lehre beendete, war er immer noch da und sollte auch dort bleiben bis die Chefin des Betriebes in Rente ging und der Salon endgültig geschlossen wurde.

Da J. aber noch nicht alt genug war um selbst in Rente zu gehen, musste er wohl weiterarbeiten. Ich fragte mich manchmal,  wo er untergekommen sei. Ich begegnete ihm manchmal selbst am Sonntagen wenn er herum spazierte. Ich versuchte, die Höflichkeit gebot es, Hallo zu sagen, suchte seinen Blick, aber er sah durch mich hindurch. Ob er mich nicht erkannte oder nicht erkennen wollte, weiß ich nicht. Ich begegnete ab und zu alten Kollegen aus der Zeit aber niemand wusste etwas über ihn.

Gestern sah ich die Chefin des Friseurladens wieder. Ich fragte sie nach J.
“Oh, meinte sie, ich sehe du bist nicht auf dem letzten Stand. J. hat sich vor über einem Jahr das Leben genommen. Er sprang von der Corniche. Er hatte eine Stelle in einem anderen Salon gefunden. Und es schien auch gut zu klappen. Er hatte seine eigene Kundschaft… Dann eines Tages kam er morgens nicht zur Arbeit. Irgendwann gegen Mittag erreichte ihn die Chefin des neuen Landes dann doch. ‘Wie, meinte diese, du lebst noch?’ ‘Ja, sagte er, aber nicht mehr lange. Man hat mich aus der Wohnung geschmissen.’ und legte den Hörer auf. Einige Stunden später rief dann die Polizei an und sagte dass er sich das Leben genommen hätte. Er hatte seit Jahren keine Miete mehr bezahlt. Er lebte seit Monaten ohne Strom und Wasser. Sein Briefkasten quoll über. Er öffnete weder Rechnungen noch Mahnungen. Er hatte eine Unmenge Schulden. Ich weiß nicht was in ihn gefahren ist.”

2 Kommentare

  1. Anouk

    Et as heinsdo komesch wei d’Liewen geet… Heinsdo get ee Saache gewuer iwwer Leit aus der Vergangenheet (vun deenen e fennt, se haetten een ongerecht behandelt), wou se engem duerno nemmen nach leed din…

    • Joel

      Stimmt.
      Und das ist gut so dass er mir leid tut. Denn wenn dem nicht so wäre, würde etwas mit mir nicht stimmen.

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