Das Foto stammt aus dem Nachlass von Großmutter Marie. Ich weiß auch wer darauf abgebildet ist, doch kenne ich sie nur unter dem Namen Tante Jeanne und Onkel Sepp. Den Familiennamen weiß ich nicht mehr.
Das Foto selbst wurde ganz offensichtlich in der Wohnung oder dem Haus von Großmutter Marie gemacht, denn ich erkenne die Möbel, das Bild an der Wand und die Stehlampe.
Dass sich Onkel Sepp hinter der Stehlampe versteckt oder Tante Jeanne so tut als ob sie lesen würde, ist meiner Meinung nach alles ein wenig gestellt.

Onkel Sepp und Tante Jeannne wohnten in Cronenbourg, einem Vorort von Straßburg, in dem auch das Kornenbourg Bier hergestellt wird.
Ich weiß aber nicht mehr zu welcher Seite der Familie sie gehörten, Großmutter Marie oder Großvater Camille (der sehr früh verstarb). Ich vermute mal dass es die Seite von Marie war, und Tante Jeanne eine Cousine war.

Weil ich mich in letzter Zeit viel mit Marcel Proust beschäftigt habe und auch viel in der Erinnerung herumkramen musste, kommt es mir so vor, als ob die Geschichten die ich von ihnen oder auch von anderen zu hören bekam hauptsächlich Krankeitsgeschichten und minutiöse Beschreibungen von Wehwehchen waren.

So gab es zum Beispiel eine Freundin meiner Tante Alice, Lucie, die in meiner Erinnerung eine wunderschöne Frau war, und auch recht lebenslustig, aber wenn Alice von ihr erzählte, war Lucie eine Enzyklopädie an Krankheitsbildern.  Sie hatte gebrechliche Knochen, litt an deformierendem Rheuma und hatte etwas das ich danach nie wieder hörte; sie hatte rheumatische Beschwerden in den Augen.

Bei Onkel Sepp und Tante Jeanne war es ähnlich. Wenn wir mal zu Besuch waren wurde immer irrsinnig viel über Krankheiten gesprochen und wie schlimm das alles sei.
Es gab mal eine Zeit als kleiner Junge da war ich felsenfest überzeugt Onkel Sepp wäre gestorben, da ich irgendwie noch wusste dass mein Vater sich Hals über Kopf  frei nehmen musste um nach Straßburg zu fahren. Aber Onkel Sepp sollte Jeanne und meinen Vater um etliche Jahre überleben, doch dazu später mehr.

Als ich neun oder zehn Jahre alt war, wurde ich in einem Sommer zur Kur geschickt.  Ich habe keine Ahnung wie oder was meine Mutter damit bezwecken wollte. Ich musste in eine ambulante Kur nach Obertal ins Schwarzwald Sanatorium. (das inzwischen einem chinesischen Konsortium gehört) Da es sehr teuer geworden wäre mich in Obertal unterzubringen fuhren wir jeden zweiten Tag von Straßburg aus dorthin. Wir waren dort bei Freunden von meinem Vater untergebracht.

Zwischenzeitlich besuchte meine Mutter pflichstschuldigst mit mir Onkel Sepp und Tante Jeanne. Ich weiß noch dass diese ganze Kur mich sehr müde machte, und ich auf dem Balkon einschlief. Ich glaube es war auch eine der letzten Male dass ich beide sah. Ich wüsste nicht dass sie später zu großen Familienfeierlichkeiten eingeladen worden wären, sonst gäbe es mehr Fotos von ihnen.

Die Jahre vergingen und als mein Vater starb musste meine Mutter natürlich auch Onkel Sepp informieren, der aber gesundheitlich nicht mehr in der Lage war nach Luxemburg zu Begräbnis zu kommen. Doch bedrängte er sie innigst ihn doch einmal zu besuchen in Cronenburg. Er würde sich über jeden Besuch freuen, jetzt da Jeanne nicht mehr da wäre, würde er sich sehr einsam fühlen.

Wir fuhren dann ein paar Wochen später hin. Ich sage “wir” denn Mutter bat mich mitzukommen, weil sie eine Vorahnung hatte. Er war ein alter gebrechlicher Mann geworden, der am Stock ging und mehr schlecht als recht seinen kleinen Haushalt hielt. Es roch alt und muffig in der Wohnung. Wir unterhielten uns über seinen Gesundheitszustand und dass er, weil er keine Nachkommen hätte schon für alles vorgesorgt hätte. Als ich für ein paar Augenblicke das Klo aufsuchen musste, nutze er die Gelegenheit meiner Mutter an die Wäsche  zu gehen.  Sie wehrte ihn ab und kurz danach stand ich wieder bei ihnen. Meine Mutter wollte keinen Aufstand machen und verabschiedete sich mit der Argument dass wir beizeiten wieder zu hause sein wollten. Sie hatte bereits geahnt dass er ein Schwerenöter der ekelhaften Sorte sei und war somit nicht weiter überrascht, als er zu grabschen begann.

Sie hat anschließend den Kontakt völlig abgebrochen.  Irgendwann erfuhr sie über Dritte, dass Sepp verstorben war.