Fressen, Kunst und Puderquaste

Verstörende Begegnung

doctor-a / Pixabay

Auf die Gefahr dass ich jetzt vielleicht als Feigling oder als Egoist abgestempelt werde, werde ich doch von der Begegnung erzählen, die vorgestern am Sonntag geschah. Zuerst wollte ich sie nur als kleines Detail in die restlichen Geschehnisse des Tages einfügen, doch ich denke sie einen eigenen Blogpost verdient.

Ich fuhr vom Kino aus zurück mit der Tram.  Ich stieg ein und sah eine ziemlich heruntergekommene Frau beim Eingang sitzen. Ich schaute sie kurz an, machte mir aber weiter keine Gedanken und ich vermeide es soweit wie möglich die Leute anzustarren, weil es für diejenigen unangenehm ist.
Ich setzte mich weiter nach vorne und hörte plötzlich meine Namen.
“Du darfst mit mir sprechen…Joël.”
Sie kannte mich!
Da es aber so leise gewesen war und ich eh nicht in der Stimmung war (wir erinnern uns an meine Unlust überhaupt etwas zu tun) tat ich so als ob ich nichts gehört hätte.
Ich setzte mich weiter vorne hin und die Tram fuhr los.
“Ja, ja du gehörst auch zu den ignoranten dummen Schicki-Micki Leuten!” schrie sie durch die Tram.
Uff, dachte ich, Glück gehabt.
Doch das Geschrei hörte nicht auf.
Ich kramte in meinem Gehirn woher ich sie kennen könnte, denn das Gesicht kam mir bekannt vor.  Dann fiel es mir ein. Es war die Ni.*  Die Ni war in meiner Klasse gewesen.  Es war in der neunten Klasse des Lycée Technique.  Sehr viel später sah ich sie wieder auf Partys.  Sie gab nebenbei Fitnesskurse im Studio einer Kundin von mir. Tagsüber arbeitete sie einer Eventagentur. Das war alles noch in meinem früheren Leben als Friseur. Ich kann mich an einen Abend erinnern an dem wir beide auf eine Geburtstagsfete geladen waren.  Damals hatte sie lange  hellblonde Haare, eine großartige Figur, war immer top gekleidet und war eigentlich ein liebenswerter Mensch,  der aber immer sehr oberflächlich wirkte. Bei mir lief sie unter der Kategorie ‘ferne Mitwirkende’.
Ich begegnete ihr ab und an, wir grüßten einander und das wars.
Dann sah ich sie jahrelang gar nicht mehr.
Bis zu dem Tag.

“Ihr seit doch alle nur IDIOTEN! , schrie sie.
“Das Gehirn verseucht mit Ammoniak! Ihr pädophilen Wichser! ihr wisst gar nichts vom Leben! Ihr habt überhaupt keine Ahnung! Ihr starrt immer nur auf euer Handy!”
In der Tram, die nur spärlich besetzt war, war es mucksmäuschenstill.
“Ich hatte auch einen Jungen der immer drauf starrte und er wurde damit begraben!”
Und während ich das schreibe kommt ein Bild hoch, dass ich ihr irgendwann einmal begegnet bin, dass sie einen Kinderwagen vor sich herschob.
Dazwischen murmelte sie immer wieder unverständliches unzusammenhängendes Zeug.
“Ein lieber feiner Junge der von euch misshandelt wurde! Ihr Drecksschweine!”
Langsam ergab ihr ganzes Geschrei Sinn.
Wenn ich dem glauben sollte, hatte sie als Mutter ihren Sohn überlebt und begraben. Nun weiß ich aus eigener Erfahrung dass es meine Mutter fast den Verstand gekostet hat, als mein Bruder starb. Ich war kurz davor aufzustehen und zu ihr zu gehen, doch jede einzelne Faser meines Körpers hielt mich davon ab es zu tun.
Ich steig an der Place de l’Étoile aus. Ich drehte mich nicht zu ihr um, denn sie hatte sich inzwischen so in Rage geredet dass ich nur noch weg wollte.

Ich frage mich ob ich hätte mit ihr reden sollen.
Ich weiß es nicht.

* Ich nehme für gewöhnlich nur die Anfangsbuchstaben der Vornamen. Da der Buchstabe N aber schon seit etlichen Jahren von einer meiner besten Freundinnen belegt  wird, und ich später auch noch wissen will wer das war, ist es jetzt Ni.

1 Kommentar

  1. renée

    ich denke, du hast genau das richtige getan. hättest du mit ihr gesprochen, wärest du sie sicher nicht mehr losgeworden. die frau ist sichtlich gestört.

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