Angeregt durch die Familiengeschichte von Allen Bennett ‘Leben wie andere Leute’, werde ich versuchen die Lebensgeschichte meines Großonkels Nicolas aufzuschreiben. Eine ausführliche Besprechung von Bennetts Buch wird später folgen.
Die Idee dazu kam mir als ich letztens wieder still in einer Ecke in einem Café saß, das Buch in Händen. Und wenn ich sonst von Allen Bennett, kleine ironische Pointen gewohnt bin, so ist dieses Buch, zumindest am Anfang, sehr traurig. Es riss mich durch einzelne Sätze immer wieder aus der Lektüre , und ich dachte an meine eigene Familie und wie wenig ich doch über manche weiß.
Eine Geschichte die mir schon lange im Magen liegt, ist die Geschichte von Großonkel Nicolas, der sein Leben lang einer Liebe nachtrauerte, durch einen Umstand der mir heute sehr sauer aufstößt. Aber dazu komme ich noch.
Nicolas kam Anfang des 20.Jahrhundert zur Welt, war der Zweitgeborene von fünf Geschwistern (2 Mädchen, 3 Jungen) und der älteste Bruder meiner Großmutter. Da er der erstgeborene Sohn war, sollte er auch den Familienbetrieb, eine kleine Schreinerei, übernehmen. Ob er sie wirklich wollte, da er lange Priester werden und in Kloster gehen wollte, weiß ich nicht so genau. Doch er fügte sich. Er fügte sich wie in vielen Dingen seines Lebens, und ich kannte ihn nur als verbitterten alten Junggesellen, bei dem etwas furchtbar schief gelaufen war, das ich aber erst viel später erfahren sollte.
Als ich zur Welt kam, lebten bereits zwei der fünf Geschwister nicht mehr. Onkel Josy, der jüngste Bruder, war an einem Sonntagnachmittag während eines Picknicks im Fluß ertrunken, weil ihm im Wasser schlecht geworden war. Man fischte ihn erst Tage später ein paar Kilometer weiter weiter aus einer Böschung.
Ich durfte späterhin nie nie nie nach dem Mittagessen ins Planschbecken das mein Vater im Sommer im Garten aufstellte, sondern musste mindestens drei bis vier Stunden warten. Für mich als kleiner Junge, der nur spielen wollte, war es eine Qual, bei der oft aus Enttäuschung, bittere Tränen flossen.
Der andere Bruder, Onkel Jängi, verstarb ebenfalls früher als erwartet. Dessen Tod sollte ebenfalls ein sehr einschneidendes Erlebnis für Nicolas werden, da er mitten im einem eiskalten Winter verstarb und das Grab nicht ausgehoben werden konnte, da der Boden steinhart gefroren war. Erst im Frühling wurde das Loch auf dem Friedhof gebuddelt und die sterblichen Überreste beigesetzt. Die Frau von Onkel Jängi bat damals Nicolas, bei der Öffnung des Sarges dabei zu sein, (damit man feststellen konnte, dass die richtige Leiche in das richtige Grab kam) und einer von der Familie bei dieser Prozedur beiwohnen musste. Sie selbst hätte es nicht gekonnt. Onkel Nicolas hat oft davon erzählt, wie schrecklich der Gestank war und wie aufgeblasen der Körper von Jängi aussah. Der Totengräber reichte ihm anschließend wortlos den Flachmann den dieser in der Hosentasche hatte, da Nicolas’ Gesicht weiß wie ein Bettlaken war.
Zwischen den beiden Weltkriegen lernte Nicolas seine erste große Liebe kennen. Sie hieß Josiane und stammte aus einer Familie die sich um einiges besser stand, als Nicolas mit seiner kleinen Schreinerei. Doch barg die Familie von Josiane ein Geheimnis das Nicolas zum Verhängnis werden sollte. Josiane und Nicolas liebten sich und wollten heiraten. Von Josiane’s Familie her war man auch nicht gegen eine Heirat. Doch Josiane hatte einen Bruder der schwul war. Dieser lebte es auch mehr oder weniger offen aus. Es war eigentlich kein Geheimnis, doch man erzählte es sich nur hinter vorgehaltener Hand. Als Nicolas’ Vater (mein Urgroßvater) dies erfuhr, was es aus. Nicolas musste sofort die Beziehung mit Josiane beenden. Der Vater hatte nichts gegen Josiane selbst, doch was wäre wenn sie Kinder bekämen. Josiane trug schließlich dieses Schwulen Gen in sich und womöglich würden ihre Kinder auch ‘so’ werden…
Und Nicolas fügte sich.
Er muss unglaublich enttäuscht und wütend gewesen sein. Doch rächte er sich auf seine Art auch am Vater. Er sorgte dafür dass der Familienname und die Schreinerei nicht weitergehen würden. Er sah nach Josiane nie wieder eine andere Frau an. Wenn er sie nicht haben könnte, dann gar keine. Nicolas wurde zu einem verbitterten alten Junggesellen. Selbst als er Josiane hätte haben können, als die Eltern verstorben waren, hatte Josiane nicht auf ihn gewartet, und hatte jemand anders geheiratet.
Alles was Nicolas an Zuneigung und Liebe geben konnte, ging an seine beiden Nichten, meine Mutter und Tante Gritty. Der letzte große Auftrag der Schreinerei war der Dachstuhl meines Elternhauses, für den Nicolas keinen Pfennig haben wollte. Er steuerte Gritty ein Drittel der Summe bei, als sie sich zusammen mit ihrem Mann eine Wohnung kaufte.
Kurz nach der Fertigstellung des Dachstuhls, ging er in Rente. Und ab da beginnen meine eigenen Erinnerungen an ihn. Ich kannte ihn nur als alten Mann der ab seiner Rente im Sessel saß, und keinen Finger mehr krumm machte. Er rostete regelrecht ein. Die älteste Schwester, die ebenfalls nicht geheiratet hatte, kümmerte sich um seinen Haushalt.
Wenn ich als kleiner Knirps mit 3/4 Jahren bei Großmutter zu Besuch war, spazierte er mit mir ab und zu in den Park Laval, wo es einen kleinen Spielplatz gab. Einer der seltenen guten Momente. Späterhin empfand ich ihn nur noch als missmutig, schlecht gelaunt, grantig und ohne Lebensfreude. Doch verstand ich nie warum das so war, und alle ihn immer in Schutz nahmen, wenn er mich anschnauzte und ich mich zur Wehr setzen wollte.
Als ich neunzehn war, starb er an einem Sonntag in einem Hospiz der Hauptstadt. Er hatte in späten Jahren noch eine Amputation von einem Fuß über sich ergehen lassen müssen, und war nach dieser schweren OP nicht mehr klar bei Verstand. Ich fuhr zusammen mit meiner Mutter der Großtante und der Großmutter hin um ihn ein letztes Mal zu sehen. Beide Schwestern brachen unter Tränen zusammen als sie ihn sahen und meine Mutter verfrachtete sie aus dem Zimmer. Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben einen Toten. Im Nachtisch entdeckte meine Mutter seine Brieftasche und suchte nach seinem Ausweis, den sie für den Totenschein brauchte. In einem Seitenfach fand sie das Passfoto einer mir unbekannten Frau. “Das ist Josiane”, sagte sie. “Mein Gott, er hatte all die Jahre immer ein Foto von ihr!”
Und so erfuhr ich ein paar Tage später in einem vertraulichen Gespräch von seinem Schicksal.
Wenn ich heute daran zurück denke ,macht es mich wütend und traurig zugleich. Die Tatsache, dass der Bruder von Josiane schwul war und die Engstirnigkeit und Ignoranz der eigenen Urgroßeltern, trifft mich so sehr wie selten etwas anderes.
Wenn sie alle wüssten…. ha!
Eng traureg Geschicht, déi ech iergendwéi novollzéie kann, well ech och an enger konservativer lëtzebuergëscher Famill opgewuess sin, wou den Image nobaussen (am Duerf) méi wichtëg war wéi säin eegent Gléck. Gott sei dank liewe mer haut an e bësse méi progressiven Zäiten…