Fressen, Kunst und Puderquaste

Hallo Du

Made with Gencraft

Ich werde Dich nicht beim Vornamen nennen. Das käme mir seltsam vor.
Vor einiger Zeit schon kam mir die Idee Dir diese Zeilen zu schrieben, obwohl Du sie nie lesen wirst. Es müsste schon so einiges in der Forschung um Raum und Zeit passieren, damit Du das zu lesen bekommst.

Also, Du.
Du hast den gleichen Namen hat wie ich.
Du siehst aus wie ich.
Du bist jünger als ich.
Du bist ich.
Du lebst meine Vergangenheit.
Du kennst das Ich von heute nicht.
Noch nicht.

Das Foto oben habe ich mit KI gemacht, obwohl du könntest es tatsächlich sein.

Ich habe mir lange überlegt wie alt Du eigentlich bist, wenn Du das hier lesen würdest. Bist Du sechs Jahre alt und hättest gerade erst lesen gelernt? Vielleicht, aber dann müsste ich anders schreiben, damit Du es verstehst. Denn das was ich Dir zu sagen habe, würde weit über das hinausgehen was du kennst oder schon gelernt hast und es würde Dir Angst machen. Dabei sollen diese Zeilen genau das nicht bewirken.

Ich hatte mir überlegt Dir dieses Schreiben zu deinem 18. Geburtstag zu geben. Doch seltsamerweise kann ich mich mehr an diesen Geburtstag erinnern. Es wurde kein großes Tohuwabu darum gemacht. Du wurdest 18 und alle waren irgendwie sehr zurückhaltend. Vater hat versucht Dir eine erbauliche und lehrreiche Rede zu halten, über Verantwortung und Großjährigkeit. Das einzige was ich noch davon weiß, ist dass es reine Sprücheklopferei war. Es war nichts dabei was Dir wirklich geholfen hätte ein Satz der etwas aufgezeigt hätte. Nur leere Worthülsen, nichts was es Wert gewesen wäre im Herzen zu bewahren, wie eine kleine kostbare Erinnerung.
Wir schreiben übrigens das Jahr 1984, das George Orwell Jahr. Du hattest das Buch bereits gelesen. Es stand auf dem Schulprogramm. Du wirst das alles sehr beängstigend finden was Orwell da geschrieben hat und froh sein, dass er nur im Ansatz recht hatte, und sich gründlich verrechnet hat mit der Jahreszahl.
Nun, ich kann Dir sagen, dass wir heute seiner Vision näher sind als je zuvor, wenn nicht schon darüber hinaus, aber anders als Orwell es geschrieben hat.

Eine anderer wichtiger Tag in deinem Leben ist im Sommer in dem Du 19 bist. Eine Freundin wird ihren Führerschein bereits haben und das alte Auto ihres Vaters. Sie wird Dich abholen zu einer Fahrt hinaus… hinaus. Und du wirst zum ersten mal das Gefühl einer neuen Freiheit haben, einer Freiheit immer in Bewegung zu sein. Ihr werdet über kleine Feldwege fahren an wunderschönen Korn- und Maisfeldern vorbei. Die Sonne wird scheinen Du wirst ein paar Grillen zirpen hören. Und als Krönung wird im Radio das Lied Forever Young von Alphaville gespielt. Und zu ersten mal wirst du diesen Text verstehen.
Let us die young or let us live forever.
Es ist das erste mal dass Dir bewußt wird, dass Glück nur ganz kurze Momente sind im Leben sind, und dass du gerade jetzt einen davon erfährst.
War der Moment wirklich so wunderbar, oder habe ich angefangen ihn mit Jahren zu verklären, ihn zu etwas zu machen was er nie war? Und wenn nicht, warum erinnere ich mich heute noch an ihn?

Nein, ich werde Dir den Brief schreiben wenn du 13 bist. Das wird ein anstrengendes Jahr. Uneinsichtige Eltern, die dir das Leben zu Hölle machen werden, die einfach nicht einsehen wollen, dass Du kein Kind mehr bist.
Vor allem dein Vater wird sich ganz fürchterlich aufführen. obwohl er das schon seit Jahren tut, wird es in dem Jahr noch schlimmer werden. Manchmal bist Du überzeugt davon, dass Du kein Teil aus deren Fleisch und Blut bist, Du, der so anders ist. Du wirst in ein Internat kommen und es wird Dir so manche Freiheit ermöglichen die Du davor nie hattest, aber es wird auch Türen öffnen, hinter denen sich die Hölle verbirgt. Wir sind in den Achtzigern und auch wenn die Möglichkeiten sich selbst zu entfalten sehr viel größer geworden sind, so ist bei weitem nicht alles möglich. Du wirst die Menschen als engstirnig und kleinkariert empfinden. Die drei Jahre im Internat werden dich prägen. Du wirst deine ersten sexuellen Erfahrungen machen mit einem älteren Mitbewohner des Internats.

Ab dem Moment wirst Du dir sicher sein das zu der Queer Community du gehörst, obwohl das damals noch nicht so genannt wurde. Dass Du das nach außen trägst mit einer sehr effeminierten Art, wird Dir zum Verhängnis werden. Du wirst über mehrere Jahre hinweg alle Fluchausdrücke für Homosexuelle kennenlernen und da wir in Luxemburg sind, in diversen Sprachen. Frocio, Finocchio, Pédé, Pétasse, Lenksen, Schwuli… all das und noch viel mehr wird man Dir auf der Straße nachschreien und wirst lernen es zu ertragen und zu ignorieren. Dir wird ein undurchdringliches Fell wachsen, das Dich bis heute schützen wird. Du wirst lernen ein Doppelleben zu leben, wie so viele andere auch.

Aber Du wirst auch lernen Dir eigene Welten zu erschaffen, in denen Du Dich wohl fühlst, sei es im Kopf, oder auch reale Zufluchtsorte, wo Dich niemand stört und deine Mitschüler kein Interesse daran haben.

Du wirst dich abkapseln und und Dir dafür selbst Vorwürfe machen, aber Du siehst keinen anderen Ausweg.

Dein Freundeskreis wird sehr klein sein, aber die wenige die Du haben wirst, wirst du lange behalten. Ein paar davon wirst Du noch haben wenn Du schon weit über 50 sein wirst.

Mit 19 wirst Du mit einem Paukenschlag zuhause ausziehen. Dein Vater und Du in einem Haus unter einem bzw. seinem Dach wird nur noch für Sprengstoff sorgen und wirst die Reißleine ziehen. Es ist im Nachhinein gesehen, nicht die beste Lösung, aber es wird das Schlimmste verhindern.

Ein großer Umschwung wird aber erst kommen mit 22. Dein Vater wird sterben und das wird so manches ändern. Es wird sich anfühlen wie eine Befreiung obwohl Du Dich dafür schämen wirst so zu denken.

Es werden ein paar schöne Jahre ins Land ziehen.

Eine schwere Zeit wird kommen wenn Du das tun wirst, von dem Du glaubst, dass Du damit eine Erwartung erfüllst. Merke dir, Erwartungen anderer zu Erfüllen ist nie der richtige Weg für Dich. Es wird die Zeit sein in der Du Dich beruflich selbstständig machen wirst. Mit 28 Jahren wirst Du bereits am Ende deiner Karriereleiter als Friseur angekommen sein. Es werden fünf lange, harte Jahre werden, aus denen Du viel lernen wirst, aber Du wirst Dich und Deine anfänglichen Ziele aus den Augen verlieren.

Doch wirst Du auch aus dieser Zeit heraus lernen was es heißt, Verantwortung zu übernehmen und dass die Freiheit, selbst über Dein Leben bestimmen zu können, mit einem hohen Preis verbunden ist.

Dann werden ein paar Jahre folgen in denen alles in der Schwebe ist. Das Gefühl dass es nicht weitergeht und Du dich selbst auf ein Abstellgleis gefahren hast wird lange mitschwingen. Dabei hast Du Dir die Weichen genau richtig gestellt in dem Moment als Du Dich für Theaterkurse eingeschrieben hast. Das wird alles verändern, aber es wird dauern.

Es wird der Tag kommen an dem Du Deine ganze Existenz in Frage stellen wirst. Es wird der Tag sein, an dem Dein Bruder sterben wird. Es wird etwas in Dir zerspringen, wie ein Kristall der auf hartem Betonboden zerschellt. Es wird nie wieder sein wie davor. Doch jedes Ende bedeutet ein Neuanfang und aus der unendlichen Trauer heraus, wird eine Kraft kommen mit der Du das schaffst. Du wirst es schaffen all das hinter Dir zu lassen und beruflich noch einmal vor vorn anzufangen.

Seltsamerweise wirst du erst sehr viel später erkennen, dass das der Moment war, an dem Du nie mehr an das Abstellgleis denken wirst.

Schritt für Schritt wirst es schaffen, ohne es je auszusprechen, dass deine Familie es akzeptiert, dass Du schwul bist, indem Du sie einfach vor vollendete Tatsachen stellst. Es ist plötzlich einfach jemand an deiner Seite. Und Du hattest richtig getippt, es wird von niemandem konkret angesprochen sondern unter einem leisen Schlucken, hingenommen ohne Fragen zu stellen.

Es werden schöne Jahre kommen aber auch sehr stressige Momente, doch deine Entscheidung alles zu ändern, wirst Du nie in Frage stellen.

Richtig schlimm wird es noch einmal werden wenn du Ende 40 bist und die Trauer um das Ableben der letzten Familienmitglieder dich so runterziehen wird, dass Du Hilfe in Anspruch nehmen musst.

Ich habe eine Weile gebraucht um Dir das alles aufzuschreiben und versucht Dir alle die Momente im Leben aufzuzeigen, in denen es schwer werden wird. Ich weiß, das wird Dir das Angst machen, aber Du wirst sie alle überstehen. Und wenn Du dann zurückblickst wirst Du sehen, dass Du in vielen Dingen der Zeit immer ein Stück voraus warst und Dich alle Rückschläge nie zurückwarfen sondern immer Stück weiter brachten.

Bewahre Dir deine Sensibilität und den Instinkt sehr früh Dinge zu erspüren und zu erkennen. Du weißt jetzt schon, dass Du diese Gabe hast. Denn es werden Zeiten kommen, in denen du Angst hast sie zu verlieren und so abgehärtet und stumpf werden wirst, wie alle anderen. Aber das wird nie passieren. Du wirst immer zu Dir zurückfinden, zu diesem einen Moment indem du glücklich warst und es war Dir ganz bewusst. Es werden noch viele folgen, das verspreche ich Dir.

Nur Mut, es wird schon.

4 Kommentare

  1. Thierry

    😭❤️

  2. Trulla

    Eine besonders schöne Art der Selbstreflexion ist Ihnen da gelungen, lieber Joel.
    Was Sie in dieser – poetischen – Form eines Briefes an das
    jüngere Selbst gemacht haben, ist eine wunderschöne Art, sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen.
    Die meisten Menschen kommen irgendwann an einen Punkt, an dem sie sich Fragen stellen, was war, was ist und was
    erwarte ich? Manche nennen es Midlife-Crisis und die Antwort könnte evtl. einen Wendepunkt bedeuten. Aber besser rechtzeitig sinnieren als unzufrieden ins Grab zu sinken, oder?

  3. Sabine B.

    Danke für diesen Brief ans jüngere Selbst, er hat mich sehr berührt.
    „Nur Mut, es wird schon“ oder was ich mir in den tiefsten Tälern immer wieder sage oder sogar in den Kalender schreibe: This, too, shall pass.

  4. Frau Klugscheisser

    Wie mutig der Junge durch sein Leben ging.
    Wie wohlwollend er es erinnert hat.

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